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Aktuelles

Am 8. März ist internationaler Frauentag – weltweit Anlass, um auf den Kampf von Frauen um Gleichberechtigung aufmerksam zu machen. Frauen mit Behinderungen erleben diesen Kampf in mehrfacher Hinsicht. Die Behindertenanwältin und der Verein Ninlil rufen auf: Wir müssen Frauen mit Behinderungen dabei unterstützen, sich für ihre Rechte und ihre Sichtbarkeit in der Gesellschaft einzusetzen.

Wer Teil der Gesellschaft sein möchte, muss sich gut verständigen können. Sprache ist dafür enorm wichtig. Zum internationalen Tag der Muttersprache am 21. Februar fordern die Behindertenanwältin und der Österreichische Gehörlosenbund: Die Anerkennung der Österreichischen Gebärdensprache muss den Weg in die Praxis finden.

Wie geht es Ihnen mit Ihrem Umfeld und Ihren Mitmenschen? Fühlen Sie sich gut eingebunden, verstanden und respektiert? Können Sie sich ausreichend einbringen, mitreden? Für gehörlose Menschen ist all das oft nicht selbstverständlich. Der Grund dafür: Informationen in ihrer Muttersprache, die sie gut verstehen, in der sie sich natürlich ausdrücken können und mit der sie sich wohl fühlen, fehlen im Alltag genauso wie in wichtigen Schlüsselsituationen.

Der Grundstein liegt schon lange

Die Österreichische Gebärdensprache ist eine vollwertige, eigenständige Sprache einer österreichischen Minderheit und somit Ausdruck ihrer kulturellen Identität. Seit 2005 ist das in der österreichischen Bundesverfassung verankert. „Dieses Signal war extrem wichtig“, erkennt Christine Steger, Behindertenanwältin des Bundes, an. „Seitdem hat man aber viel zu wenig darauf aufgebaut. Die Menschen brauchen spürbare Verbesserungen. Dazu reicht es nicht, dass ihre Sprache auf dem Papier anerkannt ist. Man muss Informationen und Kommunikationsmöglichkeiten in Österreichischer Gebärdensprache im täglichen Leben verlässlich anbieten, damit sie gehörlosen Menschen zu Chancengleichheit in der Gesellschaft verhelfen können.“ Auch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen gibt das vor. Sie verpflichtet den Staat dazu, geeignete Maßnahmen zu treffen.

Teilhabe von Anfang an

Es braucht verschiedene Arten von Maßnahmen. Ganz wesentlich ist der Bildungsbereich. „Bildung und Wissen spielen eine große Rolle, wenn es um gleiche Chancen und Teilhabe in allen Lebensbereichen geht“, betont Helene Jarmer, Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes. „Dabei müssen wir schon ganz früh ansetzen: in Kindergarten und Schule. Was Kinder in dieser Phase erfahren und lernen, bestimmt das ganze restliche Leben. Doch wie sollen sie die Lerninhalte verstehen, wie sollen sie Teil der Klassengemeinschaft werden, wenn Lehrer*innen und Mitschüler*innen eine Sprache sprechen, die sie nicht in gleicher Weise wahrnehmen können?“ Nun ist in diesem Bereich endlich ein Durchbruch in greifbarer Nähe: Ein Lehrplan zu Österreichischer Gebärdensprache wurde entwickelt uns soll bereits im Schuljahr 2024/25 zum Einsatz kommen.

Recht auf Barrierefreiheit

Diese Initiative ist ein wichtiger erster Schritt, doch damit ist es noch lange nicht getan. Barrierefreier Zugang zu Information und Kommunikation ist in allen Lebensbereichen eine Voraussetzung für Inklusion. Und es gibt ein Recht darauf, wie Christine Steger weiß: „Das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz verbietet, dass Menschen wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden. Daher müssen öffentlich angebotene Güter und Dienstleistungen barrierefrei zugänglich sein. Dafür müssen die Anbieter*innen sorgen – und zwar nicht nur, wenn es dafür eine finanzielle Förderung der öffentlichen Hand gibt, sondern immer und überall, wo es gebraucht wird.“

Mangelware Dolmetsch

Doch auch dort, wo der Wille da ist, fehlt oft der Weg zur Umsetzung: Es gibt viel zu wenig Dolmetscher*innen für Österreichische Gebärdensprache. Digitale Gebärdensprachdolmetscher, sogenannte Avatare, sieht die Interessenvertretung gehörloser Menschen problematisch. „Auf den ersten Blick erscheint die Technologie verlockend. Künstliche Intelligenz kann aber eine Person, die beim Dolmetschen Verstand und Gefühle einbringt, nicht ersetzen“, so Helene Jarmer. „Man darf sich nicht davon täuschen lassen, dass Avatare wirtschaftlich gesehen vielleicht attraktiver sind. Was wir brauchen, sind mehr Dolmetscher*innen.“ Dazu müssen zusätzliche Ausbildungsangebote und ansprechende Bedingungen für die Berufsgruppe der Dolmetscher*innen geschaffen werden.

Schritt für Schritt zum Ziel

Die Liste der Bereiche, in denen es Maßnahmen zur Verbesserung der Situation gehörloser Menschen in Österreich braucht, ist lange. Selbst dort, wo es deutliche Fortschritte gibt, ist noch viel zu tun. Das betrifft zum Beispiel die barrierefreie Aufbereitung medialer Angebote oder die öffentliche Verwaltung. Ein besonders wirksamer Hebel wäre, die Österreichische Gebärdensprache als Unterrichtssprache gesetzlich zu verankern. Doch egal, in welcher Reihenfolge welche Maßnahmen umgesetzt werden: Jede einzelne muss mit der Gehörlosen Community verhandelt werden, die Finanzierung muss gesichert sein und sie muss echte Verbesserungen im Alltag bewirken.

Behinderungen stellen Menschen vor große Herausforderungen in ihrem täglichen Leben. Verschiedenste Leistungen von Bund, Ländern und Gemeinden sollen Teilhabe, Selbstbestimmung und soziale Absicherung unterstützen. Damit man diese Unterstützung bekommt, muss man nachweisen, dass man sie braucht. Doch die Kriterien, die dafür herangezogen werden, orientieren sich oft an veralteten Auffassungen davon, was eine Behinderung ausmacht. Die Behindertenanwaltschaft und der Verein Lichterkette fordern: Die Vorgaben, nach denen über den Anspruch auf Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen entschieden wird, gehören grundlegend überarbeitet!

Das Unterstützungsangebot für Menschen mit Behinderungen in Österreich ist vielfältig. Zum Beispiel gibt es Pflegegeld, spezielle Pensionen, persönliche Assistenz, Förder- und Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz und vieles mehr. Solche Leistungen sind sehr wichtig, um gleichwertige Ausgangsvoraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben zu schaffen. Doch welche Voraussetzungen muss man erfüllen, um sie zu beziehen?

Kriterienkorsett von gestern

Je nach Leistung gibt es verschiedene Zugangsvoraussetzungen. Welche das sind, ist in Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien genau geregelt: zum Beispiel ein bestimmter Pflegebedarf nach Bundespflegegeldgesetz, ein bestimmter Grad der Behinderung oder eine Arbeitsunfähigkeit nach sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften. Bei der Beurteilung des Ausmaßes einer Behinderung stehen medizinische Kriterien stark im Vordergrund und bestimmen die Entscheidung darüber, ob eine Person eine bestimmte Leistung beziehen darf oder nicht.

„Das ist ein großes Problem“, erklärt Christine Steger, Behindertenanwältin des Bundes. „Die eigentliche Behinderung hängt nämlich stark von gesellschaftlichen Faktoren ab. Anders gesagt: Menschen sind nicht behindert, sie werden behindert.“ So kommt zum Beispiel die Behinderung gehörloser Menschen erst zum Tragen, wenn ihnen keine Gebärdensprachdolmetschung zur Verfügung steht. Ihre Kommunikationsmöglichkeiten sind dadurch extrem eingeschränkt und sie werden von der Gesellschaft ausgeschlossen. „Dieses sogenannte soziale Modell von Behinderung“, so Steger, „ist heutzutage allgemein anerkannt. Nicht zuletzt liegt es der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zugrunde, die in Österreich seit 2008 in Kraft ist. Wir sind als Gesellschaft dafür verantwortlich, für Menschen mit Behinderungen jene Bedingungen zu schaffen, die ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen ermöglichen – und die öffentliche Hand ist dazu verpflichtet.“

Vom System übersehen

Ungeachtet dieser Vorgabe herrscht bei der Beurteilung des Ausmaßes von Behinderung im Zusammenhang mit Sozialleistungen immer noch das längst überholte medizinische Modell von Behinderung vor. Hinzu kommt, dass manche Formen von Behinderung in den Beurteilungskriterien gar nicht erfasst sind, weiß Brigitte Heller, Vorsitzende der Betroffenenvertretung für Menschen mit psychischer Erkrankung, dem Verein Lichterkette.

„Für Menschen mit psychischer Erkrankung bzw. psychosozialer Behinderung ist es immer wieder schwierig, im Rahmen unterschiedlichster Einstufungsverfahren zum begünstigten Personenkreis zu gehören“, so Heller. „Dies gilt für Pflegegeld, Einstufung nach dem Behinderteneinstellungsgesetz, Berufsunfähigkeit, aber auch bei anderen notwendigen Einstufungen. Die Problematik entsteht durch das Fehlen der Berücksichtigung einiger wichtiger Faktoren, die sich im biopsychosozialen Modell von Gesundheit und Krankheit wiederfinden.“

Das „biopsychosoziale Modell von Gesundheit und Krankheit“ versteht Krankheit als ein Zusammenwirken von körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren. All diese Faktoren haben einen Einfluss darauf, wie eine Krankheit entsteht und wie sie verläuft. Daraus ergeben sich auch Barrieren und Beeinträchtigungen, die bei einem Einstufungsverfahren wesentlich sind. Um das Ausmaß von Behinderungen richtig beurteilen zu können, muss das biopsychosoziale Modell unbedingt in allen Verfahren zur Einstufung herangezogen und in die Einstufungsverordnung aufgenommen werden.

Mit Teammitgliedern des Vereins Lichterkette wird seitens pro mente Austria im Rahmen eines Forschungsprojektes an einer Checkliste für Gutachter*innen, vorerst für den Bereich des Pflegegeldes, gearbeitet, die diese psychosozialen Faktoren mit einbezieht.

Ruf nach Umschwung

In die gleiche Kerbe schlägt der aktuelle Nationale Aktionsplan Behinderung. Als eine Maßnahme zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sieht er vor, dass die Einschätzungsverordnung, die die Festsetzung des Grades der Behinderung regelt, umfassend evaluiert und weiterentwickelt wird. Auch der UN-Fachausschuss empfiehlt in seinen abschließenden Bemerkungen anlässlich der Staatenprüfung Österreichs 2023 die Anpassung von Gesetzen auf Bundes- und Landesebene an das menschenrechtliche Modell von Behinderung.

Es ist höchste Zeit: Rechtsgrundlagen, die Zugangsvoraussetzungen zu Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen regeln, brauchen dringend eine umfassende Überarbeitung – partizipativ, gemeinsam mit allen relevanten Stakeholdern und mit dem sozialen Modell von Behinderung als Leitgedanke. Nur so können wir in Österreich die Umsetzung der Standards von Teilhabe und Inklusion im Sinne der UN-Konvention gewährleisten.